Migranten! Wo kommen sie her? Was veranlasst sie, ihre Heimat zu verlassen und sich auf eine gefährliche Reise zu begeben? Fragen, die für gewöhnlich in Deutschland und Europa eher nicht gestellt werden.
Wir sehen nur die Auswirkung, sehen Menschen die in unser Land strömen und viele von uns haben Angst vor diesen fremden Menschen, dabei wollen diese nur eines, in Frieden leben.
Um in unser friedliches Land zu gelangen nehmen diese Menschen unglaubliche Strapazen auf sich, werden unterwegs belogen, betrogen und ausgenutzt. Und letzten Endes wagen sie in ihrer Verzweiflung auf wackeligen, unsicheren Booten den gefährlichen Weg über das Mittelmeer. Das viele von ihnen Europa nicht erreichen ist uns bekannt, aber wo sie genau geblieben sind nicht, denn auf dem Meer, da stehen keine Kreuze.
Die Geschichte in diesem Buch ist frei erfunden, aber so könnte es für einige dieser Menschen gewesen sein.

 

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Leseprobe

Menschen die verschwunden sind,
versunken in des Meeres Tiefen.
Über nasse Gräber pfeift der Wind,
niemand weiß, wo sie entschliefen,
denn auf dem Meer, …
da stehen keine Kreuze!

Als die Rebellen außer Hörweite waren, brachen Azikiwe und Maymun auf, um vorsichtig der Spur in entgegengesetzter Richtung zu folgen, welche die Rebellen zurückgelassen hatten. Einerseits hatten sie Angst um ihre Angehörigen, andererseits waren sie froh, dass sie den Rebellen nicht in die Arme gelaufen waren, sondern in dem Moment als sie vorbeikamen gut versteckt gerastet hatten. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn sie den Rebellen direkt vor die Nase gelaufen wären.

Kurz vor Einbruch der Dunkelheit erreichten sie eine Stelle, wo der Wald, den sie gerade durchquerten, ganz plötzlich aufhörte und sich eine tiefe Schlucht auftat. Hier endete die Spur, aber wo waren die Dorfbewohner? Wo waren Latrell und Tanisha?

Azikiwe und Maymun überlegten noch, was zu tun wäre, als sie ein leises Schluchzen wahrnahmen. Vorsichtig schauten sie sich um und entdeckten Tanisha. Sie saß etwas abseits hinter einem Busch auf einem großen Stein und weinte, Latrell stand hinter ihr und hielt sie tröstend im Arm.

Schnell gingen Azikiwe und Maymun zu den beiden und als Tanisha ihre Schwägerin sah, stürzte sie sich in ihre Arme, weinte und brach regelrecht zusammen.

Azikiwe blickte zu Latrell und fragte: „Was ist passiert?“ Latrell schüttelte mit Tränen in den Augen den Kopf und zeigte auf den Rand der Schlucht. Erst nach einiger Zeit brachte er mühsam die Worte zustande: „Sie haben mit ihren Gewehren alle hier über den Rand der Schlucht getrieben“, seine Stimme drohte zu versagen, als er fortfuhr: „Einige, die sich wehrten, haben sie erschossen und später die Leichen hinunter geworfen.“ Mehr konnte er nicht sagen. Für Minuten herrschte eine unglaubliche Stille, selbst die Tiere in der Umgebung waren verstummt.

Die Dunkelheit der Nacht brach herein. Weinend und schluchzend schliefen die Vier an Ort und Stelle ein. Sie konnten das Geschehene weder begreifen, noch verstehen.

Azikiwe war der Erste, der am Morgen mit der Tagesdämmerung erwachte. Es kostete ihn große Überwindung, aber er ging mutig an den Rand der Schlucht, legte sich dort auf den Boden und kroch so weit als möglich vor, um hinunterzuschauen.

Die Schlucht war ungeheuer tief und die Wände fielen nahezu senkrecht hinab. Unten rauschte ein tosender Fluss und es gab viele Büsche und Bäume mit dichtem Laub, aber Leichen konnte er keine entdecken. Sie mussten unter den Bäumen und Büschen liegen oder vom Wasser des Flusses davongetragen worden sein.

Ein ganzes Dorf, mehr als 70 Menschen, ihre Eltern, die Großeltern, Geschwister, Onkel, Nichten und Neffen. Alte, friedliche Menschen, die nie irgendjemandem etwas getan hatten. Kleine unschuldige Kinder. Warum? Was hatten die Rebellen davon? Wollten sie damit verhindern, dass jemand die Leichen findet? Aber warum hatten sie die Leute des Dorfes überhaupt umgebracht? Hatte es etwas mit ihrem Glauben zu tun? Azikiwe konnte es nicht begreifen und der Verlust schmerzte ungeheuerlich.

Latrell legte sich plötzlich neben ihn und sagte: „Es gibt keinen Weg hinunter, ich habe gestern schon gesucht.“                    

Mit Tränen in den Augen schaute Azikiwe zu ihm: „Aber wir können die Leichen doch nicht einfach dort liegen lassen.“ Latrell zuckte nur müde mit den Schultern, er wusste keine Lösung.

„Wir sollten unsere Frauen von hier weg bringen“, sagte er dann zu Azikiwe, „gestern fehlte nicht viel und Tanisha wäre aus lauter Trauer und Verzweiflung auch in die Schlucht gesprungen.“

Azikiwe nickte. „Aber wo sollen wir hin?“, fragte er dann ratlos. Latrell überlegte kurz und meinte dann: „Zurück ins Dorf können wir nicht, dort ist alles kaputt, das Vieh ist fort und Vorräte gibt es auch keine mehr. Außerdem können dort die Rebellen jederzeit wieder kommen.“

Azikiwe war der gleichen Meinung, er sagte: „Die Rebellen sind nach Süden gegangen. Deshalb sollten wir besser nach Norden gehen. Vielleicht finden wir ein Dorf, das uns aufnimmt.“

© Andreas Petz